Der Algorithmus und Big Data sorgen auch in den aktuellen Bestenlisten des allmächtigen Streamingdienstes dafür, dass die größten Player die besten Erträge erzielen.
Sabrina Carpenter sichert sich mit über 1,5 Milliarden Streams und ihrem sanft einschläfernden Song Espresso den Titel für den Song des Jahres. Auf den Podiumsplätzen folgen der weitgehend außerhalb von TikTok unbekannte, aber in der James-Blunt-Schule des Softrocks ausgebildete Schnauzbart- und Wuschelhaar-Träger Benson Boone mit Beautiful Things sowie Billie Eilish mit Birds of a Feather. Auch Namen wie Ariana Grande, Chappell Roan, Lady Gaga und Coldplay tauchen irgendwo in den Charts auf.
Es ist nicht unbedingt die Schwarmintelligenz, die zu diesen gleichmacherischen Ergebnissen führt. Auch nicht die schier unüberschaubare Masse an 08/15-Popsounds, die größtenteils noch von Menschenhand produziert werden und vor der kommenden Ära der KI als Hauptlieferant für Popmusik gelten. Die teilweise vorhandene Geschlechtergerechtigkeit im Pop, die piepsige weibliche Gesangsstimmen mit testosteronsenkendem Autotune-Gesang ausgleicht, trägt nur bedingt dazu bei. Die eigentlichen Übeltäter sind natürlich die Algorithmen und Big Data. Wer regelmäßig Spotify nutzt und stets nur Taylor Swift oder Sabrina Carpenter in die Suchleiste tippt oder in seinen Playlists hat, wird vom Großen Bruder, der 2023 einen Jahresumsatz von über 13 Milliarden Euro erzielte, immer wieder mit ähnlich klingender Musik konfrontiert.
Reejazz mit Dudelsack
Wäre es nicht wunderschön, wenn zumindest Österreich ein wenig aus der Reihe tanzen würde? In diesem Jahr ist RAF Camora, direkt nach Taylor Swift und noch vor seinem deutschen Kumpel Bonez MC, der beliebteste Musiker – mit einer Neuinterpretation von Falcos Out of the Dark, bei der er Mulltupfer im Mund hat. Naiv gesagt: Wenn alle, die diese Zeilen lesen, hundertmal Eight Miles High suchen würden – eine Coverversion des Popklassikers von The Byrds, gespielt vom afroamerikanischen Freejazz-Dudelsackspieler Rufus Harley – würden wir nicht nur gemeinsam verrückt, sondern der Algorithmus würde sich zumindest ein kleines Stück verändern. Bei den Fans von Taylor Swift oder Sabrina Carpenter könnte dann eine Erkenntnis durchdringen: Sie erleben jetzt die Kunst von Rufus Harley. Und wir? Wir haben das schon mit Taylor und Sabrina getan.
Mit Rufus Harley schließt sich der Kreis. Man kann auch seine persönliche Jahresbesten-Playlist auf Spotify öffentlich machen und damit eine Form der sozialen Selbstinszenierung betreiben, die den eigenen guten Geschmack über den der anderen stellt. So, und jetzt, liebe Leute, hört euch endlich die neuen Alben von Blood Incantation, Oranssi Pazuzu oder Eight Miles High von Rufus Harley an! (Christian Schachinger, 5.12.2024)
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